1938 war die Mali-Tant 16 Jahre alt.
1938 hieß die Mali-Tant noch nicht Mali-Tant.
Am 11. März 1938 tritt um 19.30 Uhr der Bundeskanzler Kurt Schuschnigg an ein Radiomikrofon.
Radio Verkehrs AG, heißt das 1924 gegründete Unternehmen.
G*tt schütze Österreich , sagt der Kanzler Kurt Schuschnigg. Der Kanzler Kurt Schuschnigg war ein frommer Mann. Einmal hatte er mit Alma Mahlers Tochter Anna eine Affäre. Auch ein frommer Mann vergisst sich mal.
Der Vater der Mali-Tant war kein frommer Mann, aber auch er hörte zu wie im Radio Kurt Schuschnigg sich verabschiedete vom österreichischen Volk. Seine Frau, die nicht Alma hieß, saß nicht vor dem Radio, sondern zusammen mit der Mali und ihrer zweiten Tochter verbrannte sie Literatur und die Mali versenkte Schnipsel von Büchern, Zeitschriften und Briefen im Abort. Die Mutter der Mali dankte ihrer Schwiegermutter, eine Frau mit modernen Angewohnheiten, die ihrem Sohn und der Schwiegertochter ein Wasserklosett viele Jahre vor dem 38er Jahr zur Hochzeit geschenkt. Wer hätte gedacht, dass ein Wasserklosett sich einmal als so nützlich erweisen würde?
Der Vater der Mali-Tant war Gynäkologe und Jude. Es gab kaum etwas Schlimmeres im 38er Jahr als Jude und Frauenarzt zu sein.
Der Vater der Mali-Tant hatte Bücher im Schrank stehen, die die Nazis, die hiesigen wie die Deutschen als volksschädigend klassifiziert haben. Bücher über den weiblichen Körper und Bücher über Homosexualität. Die Schriftenreihe des Deutschen Instituts für Sexualwissenschaft und natürlich Freud. Man war doch schließlich in Wien.
Am Abend klopften oft Frauen an die Tür. Die Frauen wollten, dass der Vater der Mali ihnen half, es wegzumachen, die Frauen waren Frauen von Roten, Brauen und auch die Frauen von gläubigen Katholiken. Der Vater der Mali-Tant war kein gläubiger Mann. Er glaubte nicht an die Roten, die Braunen und auch nicht an den Herrn Jeus Christ. Der Vater der Mali-Tant glaubte an moderne Medizin. Der Vater der Mali glaubte nicht an Bäder in kochend heißem Wasser und oder an Stricknadeln. Der Vater der Mali öffnete die Tür, wenn die Frauen klopften.
Nachdem der Kanzler Schuschnigg seine Ansprache beendigt hat, hisst jemand eine Hakenkreuzflagge.
Die Rede dauerte drei Minuten.
Sein Bruder Arthur Schuschnigg, der die Musikredaktion der RAVAG leitet, legt eine Schallplatte auf.
Im Radio spielt man den zweiten Satz aus Josef Haydns Streichquartett Op. 76, No. 3.
Man nennt es auch das Kaiserquartett, sein zweiter Satz ist eine Variation über das Thema der alten Kaiserhymne aber auch das Deutschlandlied lässt sich zu dieser Melodie intonieren. Ganz nach Belieben.
Um viertel nach acht, tritt Arthur Seyß-Inquart vor das Radiomikrofon: Er redet, wie die Nazis es immer so gern taten über Volksgenossen, Ruhe, Ordnung und Disziplin.
Ich weiß nicht ob Arthur Schuschnigg noch einmal Musik auflegte.
Die Familie der Mali aber zerreißt Bücher, Briefe und Zeitschriften. Die Mali-Tant sagt: wir hatten alle ganz blutige Hände von dem scharfen Papier.
Kurz nach Mitternacht hat das alte Österreich aufgehört zu existieren.
In den Tagen nach dem Österreich zur Ostmark wurde, beganngen die Ausschreitungen gegen die Juden.
Von einer Minute auf die nächste hatten die Juden keine Rechte und auch keine Heimat mehr.
Der Vater, die Mutter, die Geschwister und auch die Mali mussten auf der Straße knien und den Boden säubern und dabei: Juda verrecke, singen.
Die Wiener nannten das Reibpartien. Ist Deutsch nicht eine schöne, harmlose Sprache?
Die Menschen auf dem Boden, die man von den Fotos kennt, knieten eben auf dem Boden und die Umstehenden lachten. Es waren lustige Tage in Wien.
Die Nazis kamen und durchsuchten die Wohnung und die Ordonnanz des Vater, der Mali.
Mehr weiß ich nicht. Ich weiß nichts über die Tage zwischen dem 11. März und der Deportation der Familie der Mali-Tant. Ich weiß erst wieder, wann der Vater, die Mutter, die Schwiegermutter und die Geschwister abgeholt worden und wo man sie hingebracht hat und wann sie vermutlich gestorben sind, denn bis auf die Mali ist niemand aus der Familie aus den deutschen Todeslagern zurückgekommen.
Mali erzähl mir die Geschichte wo dein Vater ein Äffchen fand. Die Mali erzählt mir die Geschichte.
Mali erzähl mir die Geschichte wo die Mama sich den Saum ihres Hochzeitskleides gekürzt hat. Die Mali erzählt mir die Geschichte.
Mali erzähl mir die Geschichte, wo dein Bruder einmal zehn Kugeln Erdbeereis verschlang. Die Mali erzählt mir die Geschichte.
Mali erzähl mir vom 38er Jahr, aber immer bricht die Mali-Tant an einer Stelle ab.
„Bevor ich sterb, erzähl ich es dir“, sagt die Mali.
„Noch lebe ich ja“, sagt die Mali.
Sie sagt nicht: Noch lebe ich ja immer in Wien und seit ein paar Jahrzehnten auch wieder in der Wohnung in der sie aufwuchs, und in der für viele Jahre, diejenigen lebten, die im 1938er Jahr dort einzogen.
Die Wohnung ist hell und licht.
Ich versuche mir manchmal den Vater der Mali vorzustellen. Ob er wohl ihre Augen hatte? Oder sie seine Nase? Es gibt keine Bilder mehr.
Die Mali lebt noch immer in Wien.
Heute werden in Wien ganz ungerührt antisemitische Lieder in Wien gesungen, keiner stört sich daran.
„Österreich war ein mildes Land“, hat der Dichter Anton Kuh einmal geschrieben.
Er hat sich geirrt der Dichter Anton Kuh.
Sie können in ganz Europa: Du Saujud rufen, es kümmert keinen. Der verdeckte Antisemitismus wird immer offener und auch immer perfider, dass habe auch ich hier gelernt von der schwedischen Dame, deren verleumdende Lügen ich nicht vergesse, aber auch ich sage wie die Mali: Ich muss doch leben.
So haben wir immer gelebt in Europa.
Immer sind die Nasen der Juden angesehen wurden, dabei es sind die Hälse, die sich gleichen, wir schlucken alles hinunter, immer wieder, jeden Tag neu.
Bevor ich sterb, erzähl ich es Dir, sagt die Mali. Aber noch muss ich leben. Ich nicke, die Mali spricht über andere Dinge,die Mali-Tant ist auch Ärztin geworden, die Leute sagten über die Mali-Tant: Eh klar, die Juden behandeln die Tschuschen umsonst, aber wir müssen löhnen. Die Mali-Tant war Kinderärztin. Wenn es bei der Mali-Tant nachts klopft, macht sie die Tür nicht auf. Einmal war es ich, ein verspäteter Zug, ein leeres mobile Phone. Ich rief sie aus der Trafik an und sie machte die Tür auf: „Mädi, es tut mir so leid, ich muss dein Klopfen überhört haben. Aber später, da kam die Mali zu mir ins Zimmer: „Einmal erzähl ich es dir.“ Die Mali saß lange bei mir am Bett und ich legte meinen Kopf in ihren Schoss. Es war dunkel im Zimmer und die Mali schwieg.
2018 können sie in Deutschland, in Österreich und in Europa vieles sein, außer Jude, da stören sie außer als Thema von Gedenkreden nur. Es ist ja alles auch schon so lange her.
Aber an jenem 11. März hat sich unser Blick auf die Welt verändert, unwiederbringlich, in einer einzigen Nacht.